Loslassen, eine Lehre mit Tücken

Dieser Artikel (erschienen auf diePsyche.com) steht für viele, die das Loslassen als den Schlüssel für mehr Lebensfreude empfehlen. Ich stelle ihn hier zur Diskussion.

“Anhaftung, so befand schon Buddha vor mehr als 2500 Jahren, ist eine der Quellen von Leiden. In einer auf materielle Dinge und Besitz ausgerichteten Kultur mutet diese Feststellung widersprüchlich an. Festzustellen ist aber auch: Immer mehr Menschen in zivilisierten Ländern suchen in der Spiritualität Erlösung – und gerade der Buddhismus boomt. Und: Wir haben längst verstanden, dass Besitz allein nicht glücklich macht.

Der moderne Mensch klammert sich an Status, Besitz oder Geld, weil sie Sicherheit vermitteln. In Wahrheit ist nichts sicher. Im nächsten Moment kann sich alles ändern. Obwohl wir uns Sicherheit vorgaukeln, könnte morgen alles vorbei sein. Jeder Mensch ist nur Gast auf Erden, ein Durchreisender. Irgendwann am Ende seines Lebens muss jeder loslassen können. Doch bis dahin hält man fest. Man lebt mehrheitlich nicht im Hier und Jetzt, sondern im Gestern und Morgen – und im Widerspruch mit dem, was ist. Man lebt in Erinnerung an Dinge, die einen vor Jahren verletzt haben – so, als wäre es erst gestern geschehen.

So kann man den frischen Moment, in dem sich ein neues Erleben anbahnt, nicht unbelastet angehen. Man freut sich im Voraus auf einen Urlaub, den man erst in einem halben Jahr antreten wird. Darüber hinaus verpasst man das Jetzt – denn nichts gleicht dem spektakulären Sonnenuntergang an einem bestimmten Ort oder dem Leben auf einer idealisierten Trauminsel. Loslassen heißt in diesem Bezug, wirklich hier zu sein, diesen Moment voll auszukosten. Ganz hier zu sein, bedeutet das Loslassen aller Dinge, die nicht “hier” sind.

Sterbende müssen ebenso loslassen lernen wie Lebende. Wenn Überlebende die Trauer nicht loslassen können, werden sie depressiv. Wenn Kinder ihr Spielzeug nicht loslassen können, lernen sie das Teilen nicht. Wenn man von leer gegessenen Dosen nicht loslassen kann, wird man leicht zum Messie. Hoffnungen und Träume loslassen zu lernen, heißt mit Unsicherheit zu leben. Sich von seelischem Ballast, Schuldgefühlen oder traumatischen Erlebnissen zu lösen, bedeutet sie als geschehen zu akzeptieren und als Vergangenheit anzusehen. Vergangene Geschehnisse müssen nicht zum Stolperstein für zukünftige Erlebnisse werden. Lässt man nicht los, verhindert man freie Selbstentfaltung. Als Symptome nicht geleisteten Loslassens zahlt man mit Schlafstörungen, Depressionen, Schuldgefühlen, Panikattacken, Verleugnung und Verdrängung, Suchtverhalten, Selbstwertstörungen und Ähnlichem. Loslassen kann Verzicht und Befreiung zugleich bedeuten.

Loslassen lernt sich nicht von heute auf morgen. Manchmal hilft eine Liste der Dinge, an die man sich klammert, um sich sicherer zu fühlen. Doch die vermeintliche Sicherheit kann leicht zum Hindernis werden, in dem nichts mehr fließt. Das lebendige Fließen ist aber kreativer Bestandteil des Lebensgefühls, das einem zunehmend abhandenkommt.

Den Prozess des Loslassens beginnt man gedanklich und setzt ihn dann zunehmend auch in die Tat um. Zuerst müssen alte Einstellungen hinterfragt werden. Zu akzeptieren, die die Dinge nicht ganz so sind, wie man sie haben möchte, ist ein erster Schritt zum Loslassen. Das Geschenk des Lebens wertschätzen zu können, bedeutet, sich lebendig zu fühlen. Wer von sich sagt, er wurde gelebt, hat nicht nur gefühlt sein halbes Leben verpasst. Es liegt an jedem selbst, in welche Richtungen die Gedanken laufen. Befreit von Ballast lebt man leichter.”

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Das klingt alles ganz gut und sicherlich “spirituell korrekt”. Aber wird hier die Wahrheit über das Loslassen wirklich vollständig und praktisch anwendbar dargestellt? Es lohnt sich nachzufragen: Wann ist das Loslassen angemessen? Und vor allem: Was soll losgelassen werden? Unsere Wünsche oder die begrenzende Einstellung, die nur ihre Erfüllung zu genießen weiß? Unsere Trauer über einen Verlust oder die Einstellung, die Trauer als negatives Gefühl bezeichnet und so ihre Verarbeitung erschwert?

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